Wenn niemand mehr sitzen bleibt
Erst wippen die Füße, dann stehen Menschen auf, am Ende tanzen Kinder, Erwachsene und Ältere gemeinsam. Nicht geplant, nicht einstudiert. Es passiert einfach. So erleben viele den Chor Heimat. Bei kleinen Nachbarschaftsfesten, bei Veranstaltungen, manchmal draußen, manchmal drinnen. Die Grenze zwischen Bühne und Publikum ist schnell verschwunden. Wer will, macht mit. Wer nur zuhören möchte, bleibt stehen und lächelt.
Musik als Einladung
Selma Merker leitet den Chor seit vielen Jahren. Sie organisiert, hält zusammen, probt und sorgt dafür, dass Menschen sich trauen, dazuzukommen. Musik ist dabei kein Selbstzweck. Sie ist das Mittel, um Menschen miteinander in Kontakt zu bringen.
Ein Moment, den niemand vergisst
Bei einem Auftritt auf dem Gelände eines Wohnheims für geflüchtete Menschen wurde das besonders deutlich. Das Publikum tanzte so ausgelassen, dass sich der Chor selbst kaum noch hörte. Erst später kam eine Mutter auf Selma zu. Ihr Sohn ist taub, kann nicht hören und nicht sprechen. Er hatte trotzdem die ganze Zeit getanzt. Die Musik hatte er über die Vibrationen im Boden gespürt. Für ihn war es ein Moment voller Freude. Für alle anderen auch.
Darum geht es ihr
Solche Situationen sind es, die Selma an ihrer Arbeit liebt. Wenn Menschen sich begegnen, ohne viel erklären zu müssen. Wenn Kinder dabei sind, wird alles leichter, sagt sie. Man fühlt sich jünger, freier, lebendiger. Früher waren oft auch Enkelkinder bei den Treffen dabei. Heute ist das seltener geworden, aber die Freude am gemeinsamen Singen ist geblieben.
Lieder, die bleiben
Der Chor Heimat singt deutsche und russische Volkslieder. Viele der Lieder wurden über Generationen weitergegeben. Sie erzählen von Herkunft, von Erinnerungen, aber vor allem vom Zusammensein. Gesungen wird für ältere Menschen, bei Festen, in Einrichtungen, dort, wo Begegnung gebraucht wird.
Anerkennung für leise Arbeit
Für dieses Engagement wurde Selma Merker in diesem Jahr mit dem Reinickendorfer Ehrenamtspreis in der Kategorie Nachbarschaften ausgezeichnet. Wer ihre Arbeit kennt, weiß, dass sie nie für Auszeichnungen gearbeitet hat. Es geht ihr um die Wirkung, nicht um Aufmerksamkeit.

Musik, die zufällig findet
Auch bei der Sommerkulturbühne mitten im Märkischen Viertel war der Chor Heimat schon zu erleben. Es waren diese plötzlichen Konzerte, bei denen man eigentlich nur vorbeigeht und dann stehen bleibt. Selma trat dort mit ihrer Gruppe spontan auf. Wer zufällig vorbeikam, blieb stehen, hörte zu, manche setzten sich dazu. Für uns als Redaktion war es einer dieser Momente, in denen man merkt, wie niedrig die Schwelle sein kann, wenn Musik einfach da ist. Kein großes Ankündigen, kein Programm, nur Menschen, die zuhören und einen Moment teilen.
Viele Orte, eine Haltung
Selma hat auch Einblicke aus unterschiedlichen Auftritten geschickt. Ein Video entstand im Ernst Reuter Saal, dort sang die Gruppe gemeinsam mit Jakob Fischer von der Landsmannschaft, zwischendurch tanzte Selma Polka. Weitere Mitschnitte zeigen Feste unter freiem Himmel sowie Aufnahmen aus der Aussiedlergruppe, die sich seit über 18 Jahren jeden ersten Samstag im Monat trifft. Dort werden Geburtstage gefeiert, Weihnachten begangen und Gemeinschaft gelebt, oft auch mit Kindern, heute weniger als früher, aber immer noch offen für alle.
Ein Leben für Gemeinschaft
Selma Merker ist in Kasachstan in einem deutsch geprägten Dorf aufgewachsen, in dem Sprache, Lieder und Traditionen über Generationen weitergegeben wurden. Seit 1993 lebt sie in Berlin. Nach einem Sprachkurs machte sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin und arbeitete bis zur Rente in diesem Beruf. Neben ihrer Familie mit drei Kindern und acht Enkelkindern hat sie über viele Jahre Strukturen aufgebaut, die Menschen zusammenbringen. 2007 gründete sie beim Unionhilfswerk die Aussiedlergruppe, die sich bis heute jeden ersten Samstag im Monat trifft und im Dezember ihr 18 jähriges Bestehen gefeiert hat. Später kam Selmas Rezepte Tauschgruppe dazu. Aus diesem Umfeld entstand auch der Chor Heimat. Ende 2017 wurde daraus der Verein Heimat. Musik Kultur Geschichte e.V., damit diese Arbeit auf festen Beinen steht und nicht nur von einzelnen Terminen abhängt.





Niemand macht das allein
Dass der Chor über so viele Jahre wachsen konnte, liegt auch an Menschen, die Selma musikalisch begleitet und mitgetragen haben. Am Anfang standen Viktor Riss und Reinhold Alles an ihrer Seite. Später kam Viktor Warkentin dazu. Heute begleitet Anna Luft die Gruppe als Musikerin. Selma sagt ganz klar, ohne diese Unterstützung wäre vieles nicht möglich gewesen. Auch im Hintergrund braucht es helfende Hände. Selma betont, wie wichtig ihr dabei die Unterstützung ihres Mannes ist, gerade bei allem Organisieren und Tragen.
Was Nachbarschaft wirklich trägt
Vielleicht ist das die stille Stärke von Gruppen und Nachbarschaftsarbeit wie dieser. Sie bestehen nicht aus großen Konzepten, sondern aus Verlässlichkeit. Jeden ersten Samstag. Über viele Jahre. Und immer mit der Idee, dass es im Viertel Orte geben muss, an denen man nicht erst erklären muss, warum man dazugehört.
